Dr. med. h. c. Tom Mutters, Gründer und
Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung Lebenshilfe, ist am 2. Februar
2016 in Marburg im Alter von 99 Jahren gestorben. Er sei in den letzten
Wochen immer schwächer geworden und am Ende friedlich eingeschlafen,
hieß es aus seiner Familie.
„Heute empfinden wir alle in der Lebenshilfe
tiefe Trauer. Tom Mutters war für uns ein echter Held, und er wird es
immer bleiben. Nach dem furchtbaren Krieg, in dem etwa 300.000 kranke
und behinderte Menschen als lebensunwert von den Nazis verfolgt und
ermordet wurden, war es Tom Mutters, der die Familien dazu brachte, ihre
geistig behinderten Kinder nicht mehr zu verstecken“, so Ulla Schmidt,
Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages.
Zusammen mit Eltern und Fachleuten gründete der
gebürtige Niederländer 1958 in Marburg die Bundesvereinigung
Lebenshilfe, deren Geschäftsführer er 30 Jahre lang war. Die Lebenshilfe
hat sich in der Folgezeit zur deutschlandweit größten
Selbsthilfeorganisation für geistig behinderte Menschen und ihre
Angehörigen entwickelt mit rund 130.000 Mitgliedern, 512 örtlichen
Vereinigungen und 16 Landesverbänden. Das Angebot der Hilfen umfasst
Frühförderung, Familienentlastende Dienste, Kindergärten und Schulen für
Kinder mit und ohne Behinderung, Freizeitangebote, Werkstätten und
inklusive Arbeitsplätze sowie Wohnformen mit mehr oder weniger
intensiver Betreuung bis ins Alter.
Als UNO-Beauftragter für
„Displaced Persons“ – so der Ausdruck für Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge
und andere Menschen, die von den Nazis verschleppt worden waren – lernte
Tom Mutters in der Nachkriegszeit das Elend geistig behinderter Kinder
in den Lagern und in der hessischen Anstalt Goddelau kennen. Er sagte
einmal: „In ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit haben diese Kinder mir
ermöglicht, den wirklichen Sinn des Lebens zu erkennen, und zwar in der
Hinwendung zum Nächsten.“
Der Niederländer wurde über
Jahrzehnte zum Motor der Lebenshilfe; „Tom, der Gründer“ wird er bis
heute genannt. In den Anfangsjahren reiste er kreuz und quer durch die
Republik und brachte die Lebenshilfe-Botschaft in jeden Winkel des
Landes: Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung gehören ohne Wenn
und Aber dazu. Sie sind ein wertvoller Teil der Gesellschaft – sie
brauchen nur mehr Unterstützung als andere.
Tom Mutters brachte
den Selbsthilfe-Gedanken auch in andere Länder: nach Indien, Afrika und
Osteuropa. Mit Unterstützung der Lebenshilfe schlossen sich dort Eltern
behinderter Kindern zu vergleichbare Vereinigungen zusammen. Zudem hatte
Mutters 1965 maßgeblichen Anteil an der Gründung der
ZDF-Fernsehlotterie „Aktion Sorgenkind“, die heute Aktion Mensch heißt
und vorrangig Projekte für Menschen mit Behinderung fördert.
Ein
erstes großes Ziel der Lebenshilfe war erreicht, als in den 1960er- und
1970-Jahren die Schulpflicht schrittweise für geistig behinderte und
schwer mehrfach behinderte Kinder eingeführt wurde. Bis dahin galten sie
als bildungsunfähig.
Auch als 1989 die Mauer fiel, wurde in Tom Mutters
wieder der alte Pioniergeist wach. Es dauerte kein Jahr, da gab es
schon rund 120 neue örtliche Lebenshilfen im Osten Deutschlands: von
Annaberg-Buchholz bis Zeulenroda. „Tom, der Gründer“ hat die
Lebenshilfe über Jahrzehnte geprägt und begleitet. Er hat Menschen mit
Behinderung und ihren Angehörigen zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein
verholfen. Seine Vision aus den 1950er-Jahren spiegelt sich heute in der
UN-Behindertenrechtskonvention wider, die seit 2009 behinderten
Menschen in Deutschland uneingeschränkte Teilhabe garantiert und eine
inklusive Gesellschaft einfordert.
„Mit Tom Mutters“, sagt
Bundesvorsitzende Ulla Schmidt, „ist eine der ganz großen
Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte von uns gegangen.“ Tom
Mutters erhielt für sein Lebenswerk zahlreiche Auszeichnungen: Zu
seinem 70. Geburtstag wurde ihm 1987 das Große Bundesverdienstkreuz
verliehen, und die Medizinische Fakultät der Philipps-Universität in
Marburg ernannte ihn im selben Jahr zum Ehrendoktor. In seiner Heimat
wurde er in den Rang eines Offiziers im Orden von Oranje-Nassau erhoben.
2013 bekam der Niederländer den Preis für „Dialog und Toleranz“ des
Paritätischen Gesamtverbandes. Ihm zu Ehren wurde 1996 die
Lebenshilfe-Stiftung „Tom Mutters“ ins Leben gerufen, und bundesweit
tragen zahlreiche Lebenshilfe-Einrichtungen seinen Namen.
Die erste Wohnstätte der Lebenshilfe Berlin im Koppelweg erhielt 1987 den Namen Tom-Mutters-Haus − ein Pionier wie ihr Namensgeber. Aus der 1971 gegründeten Einrichtung heraus entwickelten sich die ersten ambulanten Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland – 1977 die erste Wohngemeinschaft und 1985 das Betreute Einzelwohnen.