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Im Gespräch mit der Politik

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Video: Dennis Lenz / Startfoto: Matthias Heinzmann (weitere Fotos s.u.)

Am 13. Oktober tauschte sich die Lebenshilfe Berlin im Abgeordnetenhaus mit der Politik aus. Im Mittelpunkt standen die Themen schulische Inklusion und die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in Berlin.

Während der Pandemie blieb die politische Interessenvertretung des Landesverbands weitgehend auf digitale Formate angewiesen. Die parlamentarische Veranstaltung am 13. Oktober ist für die Lebenshilfe Berlin die erste seit 2019. Zahlreiche Politiker:innen der Landes- und Bezirksebene sind der Einladung ins Casino des Abgeordnetenhauses gefolgt, darunter Ana-Maria Trăsnea, Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Engagement-, Demokratieförderung und Internationales in der Senatskanzlei, sowie die sozialpolitischen Sprecher:innen.

Inklusion ist wichtig für die Demokratie
Dennis Buchner, der Präsident des Abgeordnetenhauses, freut sich, wieder einen Parlamentarischen Abend durchführen zu können. „Endlich ist das Abgeordnetenhaus wieder offen für die Stadtgesellschaft“, begrüßt der Hausherr die Gäste. Demokratie lebe von Offenheit, und die Themen der Lebenshilfe seien wichtig für die Demokratie. „Sie machen sich stark für Inklusion; Ihre Wünsche und Forderungen sind für uns wichtig. Ihre Gruppe ist divers, und ihre Bedürfnisse müssen wir berücksichtigen. Das Berliner Behindertenparlament am 3. Dezember wird diese Bedeutung unterstreichen“, so Buchner. Berlin wolle eine Vorreiterrolle für inklusive Themen einnehmen, betont der Präsident.

Die Lebenshilfe bringt Themen mit, die Menschen mit Behinderung und ihren Familien unter den Nägeln brennen. Damit Menschen, die nicht für sich selbst sprechen können, zu Wort kommen, werden sie per Video vorgestellt. Erstes Beispiel ist ein Schüler mit Autismus, der drei Jahre vom Unterricht ausgeschlossen war. Ivonne Kanter, 2. Vorsitzende der Lebenshilfe Berlin und Moderatorin des Abends, macht deutlich, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handele, sondern nur die Spitze des Eisbergs sei. „Wie kann Inklusion gelingen, wenn das Recht auf Schule nicht einmal an einer Sonderschule gewährleistet werden kann?!“, fragt sich die Mutter eines 15-Jährigen mit Down-Syndrom.

Schulische Diskriminierung nicht hinnehmen
Jana Jeschke, Mitglied im Vorstand des Lebenshilfe Berlin e.V. und im Fachbeirat Inklusion, umreißt stichpunktartig die Positionen der Lebenshilfe: „Unser dringlichstes Anliegen ist es, das Berliner Bildungssystem konsequent zu einem inklusiven Schulsystem umzubauen.“ Sie fordert, den so genannten Ressourcenvorbehalt abzuschaffen. Nur wenn eine qualitativ hochwertige Beschulung und Förderung in gleichem Maße an Regel- und Förderschulen angeboten werde, sei das Elternwahlrecht ein echtes Wahlrecht.

Anhand konkreter Beispiele belegt die Schulrechtsexpertin und Mutter eines Sohnes mit Down-Syndrom, dass trotz der UN-Behindertenrechtskonvention immer noch diskriminierende Regeln und Vorschriften existieren. So waren Schüler:innen an den Förderzentren Geistige Entwicklung von der schulgesetzlichen Regelung, das Schuljahr 2020/2021 wegen Corona auf freiwilliger Basis wiederholen zu können, ausgeschlossen.

Der zu Beginn dieses Schuljahres in Kraft getretene § 41a erlaubt, die Schulbesuchspflicht für einzelne Schüler:innen auszusetzen. Dadurch, kritisiert Jana Jeschke, werde Schüler:innen in diskriminierender Weise das Recht auf Schule verwehrt. Die Fälle hätten dramatisch zugenommen, besonders betroffen seien Schüler:innen mit den Förderschwerpunkten Autismus, emotionale und soziale Entwicklung sowie geistige Entwicklung.

Die neue Zumessungsrichtlinie für Lehrkräfte lasse befürchten, so Jeschke, dass Schüler:innen mit dem höchstem Unterstützungsbedarf wegen des Lehrkräftemangels qualitativ hochwertige sonderpädagogische Förderung versagt bleibt. Als letztes Beispiel führt sie an, dass Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nach wie vor keine Schulnoten erhalten und keinen Schulabschluss erlangen können.

Recht auf Teilhabe für alle anerkennen
Betroffene Stille herrscht im Raum nach dem Video, das in das zweite Thema einführt. Es zeigt eine Frau, die nach 27 Jahren in einer Wohnstätte der Lebenshilfe in eine Pflegeeinrichtung umziehen soll und der der Teilhabefachdienst Leistungen der Eingliederungshilfe verweigert. Der erste Vorsitzende Ludger Gröting ist empört: „Es kann nicht sein, dass Menschen in die Pflege abgedrängt werden!“ Gröting, Experte für das Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Vorstand, kennt die Thematik als Vater eines Sohnes mit hohem Unterstützungsbedarf und aus zahlreichen Gesprächen mit betroffenen Angehörigen: „Wir haben große Probleme bei der konkreten Umsetzung des BTHG in Berlin.“

Er benennt Schwierigkeiten an der Schnittstelle Eingliederungshilfe und Pflege und kritisiert unterschiedliche Prozesse in den Bezirken sowie die nach wie vor weitgehend schriftlichen Verfahren. Ein Kernproblem sei, dass das Teilhabeinstrument (TiB) bislang kaum zur Anwendung käme und die AV Eingliederungshilfe auch nach zwei Jahre immer noch unzureichend sei. Rechtliche Vertreter:innen würden regelmäßig nicht beteiligt. Kommunikation fände nicht auf Augenhöhe statt. Leichte Sprache und alternative Kommunikationsmöglichkeiten würden nicht genutzt.

Beteiligung aller Akteure erforderlich
Nach den bedrückenden Video-Beispielen und den Impulsvorträgen kommt schnell eine lebhafte Diskussion in Gang. Detlef Schmidt-Ihnen, Mitglied im Vorstand der Lebenshilfe Berlin, ist bestürzt: „Als ehemaliger Schulleiter staune ich, was Schulleitungen sich erlauben können in einer Stadt, die den Anspruch hat, inklusive Schule zu machen.“ Er zieht den Schluss: „Wir müssen die Schulaufsicht evaluieren.“

Die sozialpolitischen Sprecher:innen erklären, an den Problemen fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten. Lars Düsterhöft (SPD): „Als Abgeordneter freue ich mich über jeden Input, um etwas in Bewegung zu bringen.“ Tobias Bauschke (FDP) fordert: „Treiben Sie uns! Geben Sie uns Hinweise! Wir haben eingefahrene Strukturen.“

Sascha Ubrig, hauptamtlicher Interessenvertreter der Lebenshilfe Berlin, wird konkret: „Es wird nicht mit uns geredet, sondern nur mit den Betreuern. Es sind aber unsere Ziele, nicht die der Betreuer. Die Bescheide sind nicht in Leichter Sprache. Wir werden nicht ernst genommen.“ Tim Richter, Stadtrat für Soziales und Gesundheit in Steglitz-Zehlendorf, bestätigt: „Bescheide müssen verständlicher und klarer formuliert werden. Einfache Sprache senkt Hürden. Das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung.“ 

Oliver Schworck, Leiter der Abteilung für Jugend und Gesundheit in Tempelhof Schöneberg, räumt ein, dass es an den Schnittstellen nicht rund läuft: „Den Schalter bei der Verwaltung umzulegen, ist schwierig. In den Bezirken muss es besser funktionieren. Wir müssen besser zusammenarbeiten.“ Sein Fazit: „So geht es nicht weiter! Wir müssen viel schneller viel weiter kommen. Es braucht die Beteiligung aller möglichen Akteure, auch der Lebenshilfe.“ 

Die Staatssekretärin Trăsnea freut sich ebenfalls über den Austausch: „Wir brauchen Ihre Expertise, um unsere Augen zu öffnen.“

Text: C. Müller-Zurek 

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Fotos: Matthias Heinzmann

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