Aktuelles

Digitale Teilhabe

Vorlesen

Christina Schwarzer

Die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention nach Inklusion ist umfassend und betrifft auch die Digitalisierung der Lebenswelt für Menschen mit Behinderung. Doch trotz riesiger Chancen durch das Web 2.0 tut sich immer noch viel zu wenig.

Alles redet von Digitalisierung. Gleichzeitig sind viele gar nicht richtig dabei – Computer, Internet und soziale Medien scheinen für viele Menschen Fluch und Segen zugleich zu sein. Sie sehen die Chancen, erkennen jedoch auch ihre Gefahren, in besonders anspruchsvollem Maße für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert unter dem Stichwort Inklusion:

1. Teilhabe am kulturellen Leben in der Gesellschaft
2. Teilhabe am Arbeitsleben
3. Zugang zu Bildungsangeboten

Und genau diese Zugänge lassen sich über Internet und soziale Medien besonders gut herstellen. Allerdings kann dieser Anspruch einer Realitätsprüfung zum heutigen Zeitpunkt nicht standhalten. Schon ein Überblick über barrierefreie Webseiten ist nicht zu erhalten, es erfordert ein mühsames Suchen und Glückhaben. Fehlanzeige auch bei Apps zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Und soziale Sicherheit im Netz für Menschen mit besonderen Bedarfen? Muss offenbar erst noch erfunden werden.

Dabei bietet die Digitalisierung eine noch nie dagewesene Möglichkeit der Teilhabe für Menschen, die durch ihre Beeinträchtigung im Alltag stigmatisiert und nicht selten sozial benachteiligt sind. Gerade für Menschen, die marginalisiert und ohne eigenes Zutun an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, weil sie keine Mehrheiten repräsentieren, ist das Internet ein wahrhaft egalitäres Kommunikationsmittel – Treffpunkt, Versammlungsraum, Arbeitsplatz, Vielfaltsort.

Gezielte Maßnahmen im Bereich der Digitalisierung können auf diverse Teilbereiche der UN-Behindertenrechtskonvention übertragen werden, um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durch den Einsatz barrierefreier, interaktiver Angebote positiv zu unterstützen.

Was heißt eigentlich behindert? Barrieren sind vielfältig

Ein Rollstuhlfahrer ist am Computer nicht behindert, ein Gehörloser fällt in sozialen Medien nicht auf, ein blinder Mensch kann mit geeigneten Hilfsmitteln das Netz beinahe umfassend nutzen. In vielen Fällen erfährt niemand, dass der Computer- und Internetnutzer in körperlicher Hinsicht behindert ist. Im Zusammenhang mit digitaler Mediennutzung muss man daher besonders deutlich zwischen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen unterscheiden:

• Sehbehinderungen
• Schädigungen des Gehörs
• Physische Beeinträchtigungen der Mobilität
• Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten

In Hinblick auf körperliche Schädigungen können assistive Hilfsmittel entscheidend dabei unterstützen, die Sehbehinderung, Farbenblindheit oder motorische Einschränkungen auszugleichen. In diesem Bereich wurden bereits erhebliche Fortschritte erzielt.

Aber allein in Europa gibt es nach Angaben des Projekts „Able to include“ 1,5 bis zwei Millionen Menschen mit einer schweren Lern- oder geistigen Behinderung und zwischen drei und 3,7 Millionen mit leichteren Lern- oder geistigen Beeinträchtigungen. Wie oft stoßen diese Menschen auf Barrieren und Einschränkungen im Umgang mit dem Computer und dem Internet?

Behindertenpädagogen weisen darauf hin, dass Menschen von ihrem sozialen Umfeld und der aktuellen Situation behindert werden - oder eben nicht. Verändern sich die äußeren Einflussfaktoren, ändert sich gleichzeitig der Grad oder die Art der "Behinderung" für den Betroffenen. Wo und wie werden also Menschen tatsächlich behindert und von digitaler Teilhabe ausgeschlossen, weil sie ganz einfach die Geräte, die Computertechnik, die Browser, die Webseiten und die Apps nicht verstehen und nutzen können?

Das Netzwerk „Leichte Sprache“ weist darauf hin, dass neben den rund 1,6 Millionen Menschen mit einer geistigen, seelischen oder zerebralen Behinderung bundesweit über 300.000 Menschen mit Lernschwierigkeiten von Leichter Sprache profitieren würden.

Hinzu kommt die große Gruppe der funktionalen Analphabeten in Deutschland, die von der Universität Hamburg (2011) in der deutschsprechenden Bevölkerung auf über 2,3 Millionen beziffert wurde. Und nicht zuletzt: Leichte Sprache hilft auch Migrantinnen und Migranten, für die Deutsch eine Fremdsprache ist.

Dieser großen Anzahl an potentiell betroffenen Menschen steht eine verschwindend geringe Zahl an Angeboten mit Leichter Sprache und intuitiven Bedienelementen gegenüber. Menschen mit Lern- und kognitiven Einschränkungen sind eine stark vernachlässigte Zielgruppe, wenn es darum geht, sie in der Arbeit mit Rechnern, dem World Wide Web oder Social Media zu befähigen und dadurch Teilhabe zu ermöglichen.

Forderung nach inklusiver Medienkompetenz

Als Bundestagsabgeordnete arbeite ich unter anderem im Ausschuss „Digitale Agenda“. Dort interessiere ich mich besonders für jene Aspekte der Digitalisierung unserer Arbeits- und Freizeitkultur, die Frauen und Familien sowie Menschen mit Behinderung betreffen. Ich möchte mich für die Stärkung der inklusiven Medienkompetenz aussprechen und versuche mit Unternehmen der Digitalwirtschaft hierzu ins Gespräch zu kommen.

Zum einen geht es darum, große Unternehmen zu motivieren, barrierefreie Webangebote zu erstellen: Bildung und Unterhaltung, Onlineshops und soziale Medien sollten keine unüberwindbaren Funktionseinschränkungen für Menschen mit Beeinträchtigungen darstellen. Unternehmen müssen ihre Inhalte durch leichte Sprache zugänglich machen oder mithilfe von Apps dafür sorgen, dass Webangebote „übersetzt“ werden: in Bilder, in gesprochene Sprache oder eben einfach lesbaren Text.

Ich stelle mir zudem vor, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen viel selbstverständlicher im Umgang mit dem Computer, dem Internet und sozialen Medien geschult werden. Im Moment sind es gerade mal 50 bis 60 Prozent der kognitiv eingeschränkten Menschen, die das Internet nutzen, geschweige denn soziale Medien.

Das nenne ich nicht Inklusion. Ich verstehe die Befürchtungen, dass Menschen im Netz ausgenutzt, gemobbt oder unbeachtet bleiben. Das sind aber Probleme, die man offensiv adressieren muss, um sie zu lösen. Sicherheits- und Privatsphäre-Einstellungen müssen einfach auffindbar sein.

Das ist eine Aufgabe für Web-Entwickler. Die Nutzung sozialer Medien sollte begleitet und erläutert werden, bis es für die Klienten „rund“ läuft. Das richtet sich eher an Familien, Helfer und Personal im Umgang mit beeinträchtigten Menschen, die Anleitung benötigen.

Menschen mit kognitiven Einschränkungen kann und muss digitale Inklusion ermöglicht werden, damit sie echte Teilhabe am kulturellen Leben, am Arbeitsleben und an Bildungsangeboten erleben können. Diese Forderungen existieren und sind seit langem Teil der Agenda der Lebenshilfe.

Mir liegt daran, die digitale Teilhabe als Thema der Lebenshilfe voranzutreiben, damit Menschen sich nicht am Rande, sondern mittendrin fühlen, damit sie zusammenfinden, obwohl sie Hürden und Entfernungen überwinden müssen, damit sie verstehen und miteinander reden können, obwohl Sprache manchmal nicht ihre Stärke ist.

Christina Schwarzer kandidiert 2017 für den Vorstand der Lebenshilfe Berlin

Twitter aktivieren